Gastbeitrag von Wolfgang Weber
Gedemütigt, enteignet und aus der Heimat verjagt - man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, aber diese hier platzen immer wieder auf. Bis heute leiden die Überlebenden der Zwangsaussiedlungen unter dem erlittenen Unrecht.
Das SED-Regime riss mit den Vertreibungen aus dem Sperrgebiet der DDR den Menschen den Boden unter den Füssen weg, kappte brutal ihre Wurzeln. Das Leid der Betroffenen begann vor 70 Jahren mit der „Aktion Ungeziefer“.
Zahlen, Fakten und Hintergründe über die damaligen Ereignisse und deren Folgen lieferte auf Einladung der Point Alpha Stiftung die Historikerin Dr. Anke Geier in einem Vortrag.
Das Haus auf der Grenze war bis auf den letzten Platz besetzt. Über 100 Zuschauer wollten mehr über diesen menschenverachtenden Terror erfahren.
Begrüßt wurden die Gäste, darunter Bürgermeister Jürgen Hahn aus der Point-Alpha-Gemeinde Rasdorf, von Benedikt Stock. Der geschäftsführende Vorstand der Point Alpha Stiftung stellte mit Dr. Geier eine ausgewiesene Expertin zum Thema Vertreibungen dem Publikum vor. Zudem bedankte er sich bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung für die Kooperation.
Einleitend skizzierte Dr. Geier die politischen Prozesse, die zu einer verstärkten Abriegelung der Innerdeutschen Grenze führten. Auf Betreiben der Sowjets hatte der DDR-Ministerrat am 26. Mai 1952 die „Errichtung eines besonderen Regimes an der Demarkationslinie“ beschlossen.
Bereits neun Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer wurden entlang der knapp 1400 Kilometer langen Demarkationslinie erste Wachtürme gebaut, Zäune gezogen, "Kontrollstreifen" gerodet.
Zudem ließ die SED-Regierung eine fünf Kilometer breite Sperrzone errichten, die "von feindlichen, verdächtigen und kriminellen Elementen" zu säubern sei, so die Anweisung.
Weg mussten alle, die "eine Gefährdung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung darstellten“, lautete die Direktive, wie die Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Behörde Thüringer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (ThLA) dem Publikum auf Point Alpha verdeutlichte.
Ins Visier gerieten „Grenzgänger“, „Schieber“ und „Politisch Unzuverlässige“. Zur Kategorie "Ungeziefer" gehörten auch Vorbestrafte, Ausländer, Arbeitslose, Prostituierte. Kurzum: „minderwertige Subjekte", im Stasi-Jargon.
Die lokalen Behörden trafen ihre Auswahl auf Basis von Registrierlisten und stützten sich auf Spitzelberichte, Gerüchte und Verleumdungen.
Oft reichte schon ein Vorwurf: Pflegt Westkontakte. Ist Katholisch. Hört Radio RIAS. Betreibt Hetze gegen die DDR. Schmuggelt Waren in den Westen.
In der Rhön standen auch Bauern auf der Liste, die sich gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft gewehrt hatten sowie zahlreiche Selbständige.
Oft waren es auch Neid und Missgunst, die Menschen in das Visier der Staatsmacht geraten ließen. Vielen ist bis heute nicht klar, warum sie verjagt wurden. Sie sind Opfer brutaler staatlicher Willkür.
„Man kann es sich kaum vorstellen“, schildert Dr. Anke Geier die „Evakuierungen“ an einem Beispiel:
„Es ist vier Uhr in der Nacht und bewaffnete Grenzpolizei - mit dem örtlichen Bürgermeister und einem Partei-Genossen der SED im Schlepptau - klopfen an die Haustür und Sie erfahren, dass Sie in den nächsten Stunden ihr Haus oder ihre Wohnung und ihren Heimatort zu verlassen haben und nicht mehr wiederkehren dürfen…“
Schuld sei die sogenannte Bonner Regierung und deren Politik. Der Besitz bleibe bestehen und sei unantastbar. Die Ausweisung diene der Sicherheit der Grenze und würde rückgängig gemacht werden, sobald die Einheit Deutschlands wiederhergestellt sei.
Ein ähnliches Szenario haben zwischen dem 5. und 8. Juni 1952 in Thüringen 1.570 Familien erleben müssen. Insgesamt sollten über 5.300 Thüringer aus 240 Orten von der Grenze ins Landesinnere umgesiedelt werden.
Dass es letztlich „nur“ 3.540 Menschen waren, ist glücklichen Umständen oder der teils miesen Organisation zu verdanken. Über 1.760 Personen hatten im Vorfeld von der Aktion erfahren und flohen in den Westen. Auch sie verloren ihre Heimat in diesen Tagen im Juni 1952.
Die Räumkommandos rissen die Bewohner aus dem Schlaf, hielten ihnen Zettel unter die Nase, auf denen stand: „Ich verpflichte mich, mein Anwesen innerhalb von zwei Stunden zu verlassen, und führe diese Maßnahme freiwillig durch.“
Allein im Kreis Bad Salzungen waren es 132 Familien mit insgesamt 384 Personen, die mit nur wenigen Hab und Gut auf Lastwagen oder in Güterwaggons verfrachtet wurden.
Das Ziel war unbekannt. Gelandet sind viele der Menschen, die aus Geisa, Buttlar, Borsch, Wenigentaft, Ketten, Spahl oder Wiesenfeld stammten, dann im Kreis Sondershausen.
Von einem auf den anderen Tag verloren Tausende Haus und Hof sowie ihre vertraute Umgebung, Familie und Freunde.
Unter Vortäuschung falscher Tatsachen oder zum Schutz „vor Diversanten, Spionen, Terroristen und Saboteuren aus dem Westen“, so die Referentin von der ThLA-Außenstelle in Suhl, wurden sie in grenzferne Gebiete im Landesinneren umgesiedelt.
Dort waren sie bereits vorab von den Behörden als Kriminelle oder Asoziale aus dem Grenzgebiet gebrandmarkt worden. Eine weitere große Enteignungswelle folgte dann im Jahr 1961.
Dieser Umsiedlungs-Terror der DDR wurde bis zur Wiedervereinigung totgeschwiegen. Tief sitzt der Schmerz noch 70 Jahre später bei den Überlebenden der rund 11.500 Zwangsausgesiedelten.