Gastbeitrag von Rüdiger Christ
Von 1910 bis 1993 wurde in Merkers Kalisalz gefördert. 1910 lebten ca. 428 Einwohner in 54 Wohnhäusern. Von da an wuchs die Einwohnerzahl rasant bis um das10fache auf etwa 4000 an. Die 1925 gegründete Kalifabrik sollte zur größten ihrer Art in Europa und der Welt werden.
Heute dient die Schachtanlage als Besucherbergwerk.
Dorothea Nennstiel-Deilmann (geb.1931 in Merkers), Tochter des Merkerser Landarztes Dr. med. Günther Deilmann (1904-2002) hat ihre Erinnerungen unter dem Titel „Merkerser Heimatgeschichten“ zusammen getragen.
Im Kapitel „Die Feuertaufe“ schildert Dorothea Nennstiel-Deilmann wie ihr Vater kurz nach dessen Ankunft in Merkers (am 10. Januar 1930), seine erste große Bewährungsprobe als junger Landarzt bestehen musste:
„Schnell, Doktor, helfen Sie!! Der Flack hat um sich geschossen, der Direktor verblutet! Schnell!“
Der verzweifelte Hilferuf aus dem Telefon in der Hand des Arztes schien sich an den Wänden des Sprechzimmers festzusaugen.
Noch ehe Magda, Ehefrau und Sprechstundenhilfe des noch sehr jungen Arztes , sowie die gerade behandelte Patientin sich des schrecklichen Geschehens voll bewusst wurden, hatte Dr. Günther Deilmann seinen weißen Kittel schon zur Seite geworfen und rannte mit seinem Notfallkoffer nach draußen zu seinem Fahrrad, da es zu einem Auto noch nicht gereicht hatte .
Während er im Hinauslaufen noch rief : “Ich fahr zum Schacht !“ , quietschten draußen auf der Straße Reifen, in der Hofeinfahrt wendete bereits Cheffahrer Julius Scholl den Dienstwagen des Werkdirektors vom Kaliwerk Merkers, Autotüren klappten und schon raste das Auto zurück zum Verwaltungsgebäude im Werksgelände, in dem auch der Direktor sein Büro hatte.
Fahrer Scholl wusste auch keine Einzelheiten. Er hatte vor der Verwaltung auf den Direktor gewartet, als jemand herausstürzte und ihm zurief, sofort den Arzt zu holen, es gäbe drei durch Schüsse Verletzte.
Die Menschen hier waren ohnehin in heller Aufregung, nachdem sich seit Wochenbeginn, als die Lohntüten für die Kumpel vorbereitet werden sollten, herausstellte, dass die Tresore über das Wochenende aufgebrochen worden waren und das gesamte Lohngeld für den Monat, 15.000 Reichsmark, (15.000 RM entsprechen heute der Kaufkraft von etwa 60.000 €) verschwunden war.
In dringenden Verdacht gerieten die beiden Werkspolizisten.
Nun erwarteten alle gespannt das Ergebnis der Befragung der beiden durch Direktor Zentgraf, die am heutigen Vormittag in seinem Büro stattfinden sollte, denn inzwischen gab es im Dorf kaum noch einen Haushalt, der nicht auf das Lohngeld angewiesen war.
Ohne Halt passierte Fahrer Scholl die Kartenkontrolle am Werkseingang. Vor der Verwaltung stand schon der Sanitätswagen, daneben der Fahrer mit schreckerstarrtem Gesicht. Wenig später schon hastete der Arzt an ihm vorbei die Treppen hinauf zum Direktorenbüro.
In den sonst so peinlich sauberen und ordentlichen Räumen bot sich ein chaotisches Bild: Zwischen Blutlachen, zerbrochenen Gegenständen, Papierbögen und umgestürzten Möbeln lag der Direktor am Boden und Sanitäter Schwager, der gleich im Eingangsgebäude wohnte, kniete neben ihm und versuchte verzweifelt, den stark blutenden Oberschenkel abzubinden.
Sanitäter Walter, der im Dorf wohnte, hatte die Wunden im Gesicht und am Bauch schon steril abgedeckt und kümmerte sich um den Ortspollizisten Paul Gärtner, der mit zwei Bauchschüssen bewusstlos, mit eingefallenem Gesicht und röchelnd schon auf einer Trage lag, während der Bürovorsteher blass und stöhnend noch an seinem Schreibtisch saß und versuchte, einen blutenden Streifschuss am Hals mit einem Taschentuch abzudecken.
Der vor ihm stehende Kalender mit dem kräftig rot eingekreisten Datum 06. Juni 1930 war vor lauter Blutspritzern kaum noch lesbar.
Von den Werkspolizisten jedoch keine Spur: Polizist Schumacher war gar nicht erschienen, während Flack, nachdem er seine Dienstpistole ordnungsgemäß in der Kontrolle abgegeben hatte, sich pünktlich zum Verhör eingestellt hatte.
Als er aber in die Enge getrieben wurde, zog er unvermittelt eine versteckte Privatwaffe heraus, schoss die Anwesenden kampfunfähig und ergriff die Flucht. Fast unmerklich, ruhig und sachlich, übernahm der Mediziner die Leitung der Hilfsmaßnahmen, um die Verletzten schnellstens für den Transport in das Salzunger Krankenhaus vorzubereiten.
Auch Direktor Zentgraf konnte nun vorsichtig auf einer Trage gelagert werden, nachdem der Druckverband die Blutung endlich zum Stillstand gebracht hatte.
Endlich waren die Schwerverletzten in den bereitstehenden Autos untergebracht. Aber der Transport wurde zu einer schweren zusätzlichen Belastung: Die Chaussee nach Salzungen war von Schlaglöchern übersät und statt der gebotenen höchsten Eile mussten die Fahrer versuchen, die Schmerzen der stöhnenden uns jammernden Patienten nicht noch zusätzlich zu steigern.
Im Krankenhaus angekommen, standen die Ärzte und Operationshelfer schon bereit, doch Gendarmerie Oberwachtmeister Paul Gärtner verstarb unter ihren Händen.
Dem Bürovorsteher konnte im Krankenhaus geholfen werden, während Direktor Zentgraf nach der chirurgischen Erstversorgung seiner drei tiefen Wunden in Oberschenkel Bauch und Gesicht für lange Zeit in die Uniklinik in Halle verlegt werden musste.
Der Werkspolizist Flack wurde bald gefasst und verurteilt, das geraubte Lohngeld aber nie gefunden. Trotzdem aber hatten die Kalikumpel, wenn auch verspätet, ihren wohlverdienten Lohn bekommen.
Im Ort war wieder Ruhe eingekehrt, und der erst 25-jährige Arzt war voll in der Merkerser Kaligemeinde angekommen“. So berichtet Dorothea Nennstiel-Deilmann in ihren „ Merkerser Heimatgeschichten“.
Ihr Vater Dr. med. Günter Deilmann, praktizierte bis 1971 als Betriebsarzt für das Kaliwerk Merkers und als Landarzt und Geburtshelfer für die Gemeinden Merkers, Kieselbach, Dönges und Möllersgrund.
Am 3. Oktober 1995 wurde Dr. med. Günter Deilmann die Ehrenbürgerwürde der Gemeinde Merkers-Kieselbach verliehen.
Zu Ehren von Günther Deilmann wurde ein Teil des Lengsfelder Weges in Merkers in Dr.-Günther-Deilmann-Straße umbenannt.