Gastbeitrag von Wolfgang Weber
Sie stellten sich mit bloßen Händen rollenden Panzern entgegen, weil sie die Freiheit wollten, mehr Demokratie und einfach ein besseres Leben.
In einem spannenden und faktenreichen Vortrag im Haus auf der Grenze ließ Tim Keller die dramatischen Ereignisse vom 17. Juni 1953 lebendig werden, als Hundertausende in der DDR den Aufstand probten.
Leider vergeblich. 70 Jahre ist das jetzt her. „Und was mit Aufbruchstimmung und Aufstand begann, endet mit Tod und Tragödie“, erzählt der wissenschaftliche Mitarbeiter der Point Alpha Stiftung.
Einleitend hatte der Geschäftsführende Vorstand Benedikt Stock das zahlreiche Publikum begrüßt. Doch was trieb die Menschen dazu, dieses hohe Risiko in Kauf zu nehmen?
Es ging um eine Gemengelage unterschiedlicher Gründe: horrenden Preissteigerungen, Versorgungsmängeln, Unterdrückungsmaßnahmen, um Drangsalierung, Enteignungen, ungerechtfertigte Inhaftierungen – letztendlich um die miserablen Lebensbedingungen, die mit der unnachgiebigen Durchsetzung des Sozialismus verbunden waren.
In Betriebsversammlungen, in Streikkomitees und in Resolutionen wurden deshalb Forderungen formuliert, die schließlich zu politischen Zielen wurden: Abschaffung des diktatorischen SED-Regimes und freie Wahlen.
Häufig wurde auch die Aufhebung der Besatzungsgrenzen oder der freie Reiseverkehr zwischen den Zonen verlangt. Die staatlich angeordnete Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent war aber ganz sicher der Funke, der das Pulverfass dann am 17. Juni 1953 explodieren ließ.
„Kollegen, reiht euch ein! Wir wollen freie Menschen sein!“ skandierten Bauarbeiter in Berlin und riefen zum Generalstreik auf. Die Lawine war nicht mehr aufzuhalten, macht Tim Keller dem Publikum in der Gedenkstätte Point Alpha deutlich, und band in seinen Vortrag Bild- und Kartenmaterial sowie original Film- und Tonaufzeichnungen ein.
Über eine Million Bürger schlossen sich in rund 700 Ortschaften der DDR den Protesten an. Die DDR-Regierung, die SED, Stasi und „der große Bruder“ waren in Aufruhr, fürchteten um die Macht, reagierten brutal.
Soldaten feuerten Schüsse auf die 150.000 Demonstranten in Berlin ab. Die Auseinandersetzungen wurden aggressiver. Es gab mehrere Tote. Junge Leute warfen Steine auf die 600 Panzer in Ost-Berlin und versuchten, die stählernen Kolosse zum Stehen zu bringen.
In Geisa und Umgebung und in den thüringischen Dörfern der Rhön wirkten noch die Grenzziehung mit Stacheldraht von 1952 sowie die unmenschlichen Zwangsaussiedlungen nach und sorgten zusätzlich für Wut.
„Als in Geisa am 17. Juni sich die Nachricht vom Aufstand verbreitet, nährt sich in großen Teilen der Bevölkerung die Hoffnung, dass sie endlich befreit werden“, zitiert Tim Keller aus den Recherchen von Günter Sagan, der als Co-Referent aus gesundheitlichen Gründen seine Mitwirkung auf dem Podium leider hatte absagen müssen.
Die Stimmung in den Straßen sei geprägt gewesen von Aufregung und Neugier. Zu öffentlichen Aktionen und den Ausnahmezustand sei es jedoch nicht gekommen.
Doch bereits am Abend desselben Tages breitete sich fast überall Friedhofsruhe aus. Es herrschte Ausgangssperre. Wer sich nun noch blicken ließ, riskierte die Verhaftung.
Der Aufstand wurde gewaltsam niedergeschlagen. Die verheerende Bilanz: Vermutlich über 70 Tote, zirka 1700 Verletzte, 92 standesrechtliche Erschießungen von Rädels- und Streikführern, und 15.000 Protestler hinter Gittern.
Der Tag, der so hoffnungsvoll begonnen hatte, endete tragisch. Erhöhte Alarmbereitschaft herrschte dagegen weiterhin jenseits des Zaunes.
Der Bundesgrenzschutz und die US-Streitkräfte patrouillierten verstärkt, man traute den Sowjets nicht über den Weg. Es wurde befürchtet, dass es wieder zum Krieg kommen könnte, deshalb beschränkte sich die westliche Seite auf Sympathiekundgebungen, Gesten und Apelle, die den Wunsch und Willen zur Wiedervereinigung nachhaltig ausdrücken sollten.
Zur Erinnerung an den Aufstand und um das Ziel einer Vereinigung des geteilten Landes nicht aus den Augen zu verlieren, feierte die Bundesrepublik von 1954 bis 1990 am 17. Juni den „Tag der deutschen Einheit“ als Nationalfeiertag.
Abgelöst wurde er 1990 vom „Tag der Deutschen Einheit“ – nun mit einem großen „D“ geschrieben – der am 3. Oktober die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zum Thema hat.
Einige Jahre im bundesweiten Scheinwerferlicht der Gedenkfeierlichkeiten zum 17. Juni stand die Ortschaft Rasdorf.
6.000 Menschen ließen zum Beispiel bei einer Großveranstaltung 1961 unter der Schirmherrschaft des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland“ den flaggengeschmückten Anger, den größten Dorfplatz Hessens, aus allen Nähten platzen.
Eröffnet wurde die Veranstaltung vom Hünfelder Landrat Heinrich Beck im Beisein des Fuldaer OBs Dr. Alfred Dregger. Der damalige Bundesaußenminister Dr. Heinrich von Bretano war extra aus der Hauptstadt Bonn angereist, um die Festansprache zu halten.
„Wir gehören zusammen“ war der Wahlspruch bei der Massenkundgebung 1964 mit nächtlichem Mahnfeuer auf der Setzelbacher Höhe zu der ebenfalls noch 6.000 Teilnehmer kamen.
Detailliert beschrieben hat diese Szenen der Heimatforscher Sagan im Buch „Rasdorf und der 17. Juni 1953“, das auf Initiative von Wendelin H. Priller und Hermann-Josef Hahn des Vereins zur Förderung der Heimat- und Kulturpflege Rasdorf aufgelegt wurde.
Die Ereignisse waren für Rasdorf riesiges Erlebnis und logistische Herausforderung zugleich. In den Jahren ebbte der Zuspruch allerdings
stetig ab, die Tradition endete 1969.
Aufgegriffen wurde das Thema „17. Juni 1953“ dann erst wieder im Jahr 2003 vom Kuratorium Deutsche Einheit e.V. im Haus auf der Grenze und ab 2005 mit der erstmaligen Verleihung des Point-Alpha-Preises am geschichtsträchtigen 17. Juni an die ehemaligen Staatschefs Helmut Kohl, Michail Gorbatschow und George Bush sen.