Gastbeitrag von Wolfgang Weber
„Born in the USA“ schallt aus den Boxen und Dietmar Schultke „rockt“ die rund 100 Besucher in der Gedenkstätte Point Alpha mit seinem kurzweiligen Vortrag.
Der 56-Jährige aus dem Spreewald erzählt von seinen Erlebnissen und Gefühlen beim größten Rockkonzert, das die DDR je erlebt hat, seiner Sehnsucht nach dem „American way of life“, aber auch von der „Zwangsjacke DDR“, die er als Jugendlicher und Grenzsoldat bei der NVA zu erdulden hatte.
Zusammengefasst hat der Autor seine Erinnerungen in dem Buch „Keiner kommt durch“. Begrüßt wurden zu Beginn der Referent und die Gäste, darunter Stiftungsratsmitglied und Bundestagsabgeordneter Michael Brand, von dem Geschäftsführenden Vorstand der Point Alpha Stiftung Benedikt Stock.
Exakt 35 Jahre ist es her, dass der US-amerikanische Sänger Bruce Springsteen sich bereit erklärt hatte, mit der E Street Band am 19. Juli 1988 für die Jugend der DDR in Ost-Berlin zu spielen.
„Badlands“ (Ödland) zum Einstieg auf der FDJ-Bühne – wer hätte das für möglich gehalten? Wollte das SED-Regime mit diesem Konzert etwa Glasnost und Perestroika à la Gorbatschow zelebrieren?
„Natürlich wollte der Regierungsapparat ein Gegengewicht zu den Trends aus dem Westen setzen, mehr Offenheit vorgaukeln, die junge Generation beruhigen und beschwichtigen“, sagt der Politikwissenschaftler: „Aber damit haben die sich ganz schön verkalkuliert und so erst den Geist der Freiheit ins Land gelassen.“
Offiziell grölten 160.000 Menschen die Hits textsicher mit und schwenkten dabei selbstgenähte Flaggen mit den „Stars and Stripes“.
In Wirklichkeit müssen es über 250.000 Fans gewesen sein, manche Quellen sprechen sogar von 500.000, die in und um das Radrennbahngelände auf Laternen und Bäume geklettert waren, um einen Blick auf den „Außerirdischen“ zu erhaschen.
Und der Star begrüßte seine Fans auf Deutsch: „…Ich bin gekommen, um Rock’n‘Roll zu spielen, in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren umgerissen werden…“.
Die Masse jubelte, genoss die fetzigen Melodien und stillte für einen Moment ihren Hunger nach Lebensfreude. „Es war unvergleichlich, wunderbar, der Beat, der Rhythmus“, kommt Schultke im Haus auf der Grenze ins Schwärmen, „es waren die vier schönsten Stunden meines Lebens.“
Dabei war der Alltag für ihn alles andere als ein Zuckerschlecken. Schon als Zehnjähriger wurde er mit dem amerikanischen Bazillus und dem Sound vom „Boss“ infiziert. Chronisch.
Eine frühe Brieffreundschaft mit einer in New York lebenden Deutsch-Amerikanerin weckte in ihm das Ziel, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten auszureisen.
Fortan spürte er eine Verbindung zu den amerikanischen Hippies, schloss sich deshalb der ostdeutschen Tramper- und Blues-Szene an, um cool und lässig, wie Woodstock-Blumenkinder, in den Tag zu leben. Als 19-jähriger traf er sich mit seiner Brieffreundin in Ungarn. Er zog eine Flucht ins US-Konsulat in Erwägung, verwarf die Idee aber wieder.
Drei Monate später erhielt Schultke die Einberufung zur Armee. Er verweigerte seine Unterschrift im Dienstpass, berichtete vom militärischen Drill, vom Umgang mit dem Schießbefehl und Schikanen innerhalb der Truppe, aber auch von Kameradschaft, der engen Beziehung zu den Hunden, mit denen er entlang des Grenzzauns am Brocken patrouillierte sowie dem umfassenden Spitzelsystem in den eigenen Reihen.
„Eigentlich wollte ich nur noch raus, aber das war unmöglich. Als Grenzsoldat habe ich letztendlich sogar meine eigene Gefangenschaft selbst bewacht“, stellt er rückblickend fest.
Schließlich gelang es ihm eine Karte für 19,95 Ost-Mark plus fünf Pfennig Nikaragua-Zuschlag für den Auftritt seines Idols zu ergattern.
„Das war wie die Mondlandung.“
Märchenhaft ging es weiter, denn nur ein Jahr später werden seine kühnsten Träume wahr: Nach der Grenzöffnung reiste er in die USA, kaufte sich dort sein erstes Auto und bereiste unter anderem die berühmte Route 66 in Richtung Kalifornien.