Gastbeitrag Winfried Möller
Nicht einmal vier Jahre nach ihrer Gründung steht die DDR kurz vor dem Aus: Nur mit Hilfe sowjetischer Panzer gelingt es dem SED-Regime, einen Volksaufstand niederzuschlagen.
Der 17. Juni 1953 gehört zu den prägendsten und bedeutendsten Ereignissen der jüngeren deutschen Geschichte. Warum droht diese historische Wegmarke in Vergessenheit zu geraten?
Auf die Suche nach Antworten begaben sich beim 13. Geisaer Schlossgespräch, das gemeinsam von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen und der Point Alpha Stiftung veranstaltet wurde, die Historiker Dr. Anna Kaminsky und Dr. Jens Schöne.
Dabei analysierten sie unter der Moderation der Journalistin Blanka Weber auch die Ursachen, Hintergründe, den Verlauf und die Auswirkungen dieser „klassischen“ Revolution und hoben den Mut der Menschen hervor, ihren Unmut auf die Straße zu bringen.
Es gibt Tage oder Jahreszahlen, an die man sich erinnern muss. Die Deutschen Revolutionen 1848 und 1918, der 8. Mai 1945 oder der 9. November 1989 gehören sicherlich dazu, weil es Daten sind, die den Lauf unserer Geschichte beeinflusst haben.
So zumindest haben wir es in der Schule gelernt. Aber was ist am 17. Juni 1953 passiert, dass er uns im Gedächtnis bleiben sollte?
„Die Wissenslücken vor allem der 14- bis 25-Jährigen sind katastrophal, haben wir festgestellt“, sagt die Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Anna Kaminsky.
Und sie schließt sich daher vorbehaltslos der Forderung aus dem Publikum an, das Thema im Lehrplan und im Unterricht fester zu verankern.
„Es ist noch viel schlimmer“, ergänzt Jens Schöne, Stellvertretender Berliner Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur:
„Auch in den Universitäten findet bei der Lehrer-Ausbildung die Geschichte der Teilung quasi nicht statt. Und dabei geht es nicht einmal um die DDR, sondern vor allem um die Vermittlung unmittelbarer Demokratie-Geschichte.“
Ein Patentrezept zur Lösung des Dilemmas haben die Diskutanten ad hoc nicht parat, aber verschiedene Ansatzpunkte.
„Der 17. Juni muss anschaulich und konkret erzählt werden, so wie es Point Alpha macht, verbunden mit Dokumentationen und Biografien von Personen“, schlägt Kaminsky vor – Worin bestand die Courage der Bürger? Was ist aus ihnen geworden? Wohin sind Menschen verschwunden?
„Ich bin überzeugt, wir haben ein gutes Produkt“, meint Schöne, „aber wir kriegen die Kids nicht, wenn man sagt, Opa erzählt von früher.“
Neben gutem Unterricht in Schulen oder Gedenkstätten, sollte man auch neue Wege wie die Sozialen Medien nutzen, um Historisches begreifbar zu transportieren.
Ohne den 17. Juni lasse sich die deutsche Geschichte der vergangenen Jahrzehnte nicht erklären, sind sich beide einig.
Es ließen sich die Fluchtbewegung in den Folgejahren, die „Abstimmung mit den Füßen“, ebenso wenig nachvollziehen wie der Bau der Grenzsperranlagen, die systematische Verfolgung Andersdenkender, die Proteste gegen das Regime oder die Friedliche Revolution.
Schon deshalb müsse der 17. Juni eine besondere Gewichtung erhalten. Aber ebenso, weil er das Bewusstsein dafür schärfe, was der Aufstand mit der Gegenwart und Zukunft zu tun hat und was Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie bedeuten.
In der DDR ist der Aufstand nur wenige Stunden nach seiner Niederschlagung als „faschistischer Putschversuch“ der aus dem Westen gesteuert wurde, denunziert worden.
Noch heute glaubt so mancher die Legenden, die die SED über vier Jahrzehnte verbreitete.
„Auch in den Familien wurde aus tiefsitzender Angst nicht darüber geredet, und die Opfer mussten sogar unterschreiben, über ihre Erlebnisse zu schweigen“, versucht Kaminsky zu erklären, warum diese Revolution in Vergessenheit geraten ist.
In der Bundesrepublik ist der 17. Juni zwar noch 1953 zum „Tag der deutschen Einheit“ (bis einschließlich 1990) und 1963 zum „nationalen Gedenktag“ (bis heute) proklamiert worden.
„Die Verdrängung des Aufstandes hat dennoch auf beiden Seiten gut funktioniert“, bringt es Schöne auf den Punkt.
Aus dem Gedenktag, der Millionen Menschen in der Bundesrepublik an die Unfreiheit in der „Zone“ erinnern sollte, wurde über die Jahre nicht mehr als ein weiterer freier Tag.
Der Volksaufstand im ganzen Land für Freiheit, Einheit und sozialpolitische Verbesserungen sei allmählich zu einem Arbeiterprotest in Ost-Berlin gegen zu hohe Normen geschrumpft.
Erst mit dem Fall der Mauer und der Öffnung der Archive konnte der Volksaufstand wieder in seiner Breite gewürdigt, erforscht und bekannt gemacht werden.
Es dauerte bis zum 50. Jahrestag im Jahr 2003, dass das historische Ereignis ins gesellschaftliche Bewusstsein zurückgelangte – um bis zum 70. Jahrestag in diesem Jahr wieder aus der kollektiven Erinnerung zu verschwinden.
In einem Schluss-Statement für die Mitveranstalter betonte Dr. Alexander Jehn, Direktor der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, dass es Aufgabe von Veranstaltungen wie des Geisaer Schlossgesprächs sei, Geschichte in seiner gesamten Breite zu betrachten.
Auch er identifiziere Defizite in Bezug auf die deutsch-deutsche Geschichte im Unterricht, sei diesbezüglich aber hoffnungsfroh, da die Politik lernfähiger sei als man glaube.
In diesem Zusammenhang und mit Blick in die Zukunft erwähnte Jehn die Umgestaltung des ehemaligen Notaufnahmelagers für DDR-Bürger in Gießen in ein Erinnerungsort mit Zeitzeugenmemorial, in dessen Nähe auch die Ausbildungsakademie für Lehrkräfte entstünde.
Hintergrund: Der 17. Juni 1953
Mit bloßen Händen stellten sich vor 70 Jahren die Menschen in der DDR rollenden Panzern entgegen, weil sie die Freiheit wollten, mehr Demokratie und einfach ein besseres Leben in Selbstbestimmung statt Versorgungsmängel, Unterdrückung, Drangsalierung, Enteignung oder ungerechtfertigter Inhaftierung.
Seit der Gründung hatte die DDR-Führung eigentlich auf allen Ebenen versagt, machte beim real existierenden Sozialismus aber weiter wie bislang: hart und rücksichtslos.
Nach Stalins Tod am 5. März 1953 kamen die neuen Moskauer Herrscher zu dem Schluss, dass die DDR auseinanderbricht, würde der Flüchtlingsstrom so weitergehen.
Daher kam die Vorgabe für einen „Neue Kurs“, den „Klassenkampf“ gegen Kirchen, Mittelstand und Bauern zurückzufahren.
Politisch motivierte Gerichtsurteile sollten überprüft und revidiert werden, sozialpolitische Maßnahmen sollten den prekären Alltag materiell aufbessern.
Die eigene Partei war von der radikalen Kursänderung völlig überrumpelt und handlungsunfähig. Das Eingeständnis, Fehler begangen zu haben, nahm die Gesellschaft als Bankrotterklärung des Systems wahr, sie witterten Morgenluft.
Bereits am 12. Juni versammelten sich in verschiedenen Orten auf dem Lande Menschen, es kam zu Streiks, immer lauter wurden die Rufe nach dem Rücktritt der Regierung und freien Wahlen.
Am 17. Juni kam dann auch das öffentliche Leben in Ostberlin zum Erliegen. In über 700 Städten und Gemeinden streikten, demonstrierten und protestierten etwa eine Million Menschen.
Das Militär der UdSSR schlug den Aufstand nieder. Die Revolution hatte keine Chance. Was mit Aufbruchstimmung und Aufstand begonnen hatte, endete mit Tod und Tragödie.