Leserbrief – Gegendemonstrant aus Kaltennordheim antwortet den „Löwenwirten“

Leserbrief von Frank Fulge
zum Beitrag Leserbrief - „Löwenwirte“ aus Kaltennordheim reagieren auf AfD-Gegendemo


Die Redaktion weist darauf hin, dass der Inhalt der Leserbriefe die Ansicht der Einsender wiedergibt, die mit der Meinung der Redaktion nicht unbedingt übereinstimmt.


Lieber Horst, lieber Christian,

mit einem offenen Brief habt ihr euch an die Gegendemonstranten zu eurer AFD-Wahlkampfveranstaltung gewandt. Ich war einer von ihnen. So soll dieser Brief auch nicht unbeantwortet bleiben.

Zugegeben, einer Charmeoffensive gleicht das Schreiben nicht, wenn ihr die Demonstranten als „desinformierte Schreihälse“ bezeichnet. Das impliziert, dass wir nicht auf Augenhöhe diskutieren und dass ihr die Deutungshoheit für euch beansprucht, im Sinne von: ihr vertretet die Wahrheit, wir haben keine Ahnung.

Diese sprachliche Abwertung und den Allgemeingültigkeitsanspruch eurer Überzeugungen halte ich für gefährlich und zeigt in fataler Weise Parallelen zu den Indoktrinationsmechanismen von totalitären Systemen. Wie das im Nationalsozialismus funktionierte, hat der Philologe Victor Klemperer in seinem 1947 erschienenen Buch „LTI“ aufgezeigt.

Aber auch im „real existierenden Sozialismus“ hatten wir diese Erscheinungen. Man erinnere an die Tiraden eines Karl-Eduard von Schnitzler oder an „die Partei, die hat immer Recht“.

Mit der Radikalisierung von Sprache und der De-Legitimation öffentlicher Institutionen („Lügenpresse“ – ein Kampfbegriff, der auch im Nationalsozialismus gebräuchlich war), bis hin zu einer Brutalisierung der Debatte, wie in den symbolischen Galgen während der Bauernproteste oder Übergriffen auf politische Gegner sehe ich die gleichen gefährlichen Zerfallsprozesse einer Zivilgesellschaft.

Wenn ich obendrein noch erfahre, dass Du, Christian, eine Teilnehmerin der Demonstration verbal attackierst und ihr verbieten willst, die Straße vor deinem Anwesen zu benutzen, stimmt mich das nicht nur nachdenklich, da kriege ich „Puls“.

Aus Erzählungen alter Kaltennordheimer wissen wir, dass normale Bürger ihre jüdischen Mitmenschen während der Pogrome im Keller der heutigen Eisdiele einsperrten und denselben mit Wasser aus dem damals noch angrenzenden Mühlbach fluteten. Bei der Vorstellung schaudert es mich, ich frage mich aber auch: Wie weit sind wir davon entfernt?

„Auf den Dörfern patrouillieren Jungs Abends mit ihrer Stimme und schauen, dass noch alle Plakate hängen und melden Abreißer sofort weiter. Bürger fragen, was man verteilt und stellen mit dorffester Stimme klar, dass hier nur Blau verteilt werden darf. Ansonsten „würde es brenzlig“.“(Simon Kaupert, Rechtsaktivist auf X, retweetet vom Büroleiter von Herrn Höcke) Haben solche Aussagen nicht erstaunliche Parallelen zu den Schlägertrupps der SA oder zur Stasi?

Was haben wir mit der angemeldeten Demo für uns in Anspruch genommen? Das Recht auf Demonstration und freie Meinungsäußerung. Ganz so wie ihr. Es ist ja niemandem verborgen geblieben, dass ihr aktiv an den „Montagsspaziergängen“ teilgenommen habt und mit Trommeln, Trillerpfeifen und Megaphon eurem Unmut über bestehende Missstände Luft gemacht habt. Mir ist aber nicht bekannt, dass ihr dafür in ähnlicher Weise angefeindet wurdet.

Zur Klarstellung, weil ich vermute, dass ich als „links-grün-versiffter Klimakleber“ diffamiert werde: Ich fahre einen Diesel, esse gern Fleisch, heize mit Holz und gendere nicht. Ich liebe unsere schöne Rhön-Heimat.

Was ich für mich in Anspruch nehme, ist aber, bei menschenverachtenden und rechtsradikalen Äußerungen klar auf Distanz zu gehen. Ich habe auch mehr Fragen als Antworten, wenn es um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen in der Coronazeit geht, lehne Impfzwang ab. Mich beschäftigen auch die Themen Migration und Rüstungsspirale, ich will auch keinen Krieg. Ich weiß, dass die Wirtschaft kränkelt, bin mit dem erratischen Regierungsstil der „Ampel“ nicht im Reinen.

Ich werde aber hellhörig, wenn sich eine Kraft dazu berufen sieht, alle Protestbewegungen zu vereinnahmen und einfache Antworten auf ziemlich komplexe Sachverhalte anzubieten, ja sogar nicht davor zurückschreckt, sich als legitimer Nachfolger der Friedlichen Revolution von 1989 zu inszenieren.

Herr Höcke kann sehr wohl smart und rhetorisch geschickt argumentieren, nutzt dazu auch gern jede Möglichkeit im „öffentlichen Unrechtsfunk“. Dass er mit seinen Sonntagsreden Menschen abholen kann und sie dazu bewegen kann, ihn mit demokratischen Mitteln an die Macht zu bringen, nötigt schon fast Respekt ab.

Aber was ist seine Agenda und die seiner Verbündeten? Dazu lief am Montagabend, den 19.08.24, um 22:15 eine Dokumentation in den Dritten der ARD, die die Verbindungen zu solch illustren Figuren, wie dem rechtsextremen Vordenker Götz Kubitschek oder dem militanten Neonazi Thorsten Heise beleuchtete. Selbst ehemalige „Weggefährten“ wie Herr Meuthen äußerten sich sehr besorgt über die aktuelle Entwicklung hin zu einem totalitären Machtapparat.

Ich weiß, ihr werdet dies als linke Propaganda abtun und euch nicht damit befassen. Ich habe aber die Hoffnung, dass der ein oder andere Leser dieses Kanals noch einmal innehält, die Mediathek aufruft und sich dann eine Meinung bildet, bevor er am 1. September „Geschichte schreibt“.

Es steht jedem frei, die öffentlich-rechtlichen Anstalten zu meiden und sich „alternativ“ per telegram, tik-tok oder youtube zu informieren. In meinen Augen birgt dies aber auch die Gefahr, seine Sichtweise zu verengen und sich medial „gleichschalten“ zu lassen.

Ihr habt in eurem Brief die Kirche kritisiert und droht an, das Gebäude nicht mehr zu betreten. Das riecht zwar etwas nach emotionaler Erpressung, steht euch aber frei.

Mit der Kritik an der Institution Kirche kann ich in Teilen konform gehen. Da können wir sogar weitergehen bis hin zu Bonifatius, der die Donar-Eiche fällte, den Häretiker-Verfolgungen im frühen Mittelalter, über die Inquisition, zu den Hexenverbrennungen, den Missionaren in den Kolonien, Segnungen von Kriegswaffen etc.

Das hält mich als Atheist und Agnostiker aber nicht davon ab, hinzugehen, wenn sich Menschen für christliche Grundwerte wie Toleranz, Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit versammeln.

Ihr wollt nicht gern als Nazis beschimpft werden, das finde ich schon mal gut. Ich weiß auch, dass nicht alle Besucher des Biergartens die faschistische Ideologie teilen, wenn sie gegen Windräder, das Gendern, von der Politik enttäuscht sind. Aber das andere Gesicht der AfD ist doch auch kein Geheimnis.

Folgende Zitate von AfD-Funktionären habe ich nicht erfunden, die sind verbrieft und solche Meinungen sind für mich ganz klar faschistisch:

„Immerhin haben wir jetzt so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holocaust mal wieder lohnen würde.“ Marcel Grauf

„Bei uns bekannten Revolutionen wurden irgendwann die Funkhäuser und Pressehäuser gestürmt und die Mitarbeiter auf die Straße gezerrt. Darüber sollten Medienvertreter hierzulande einmal nachdenken.“ AfD Hochtaunus

„Wir müssen ganz friedlich und überlegt vorgehen, uns gelegentlich anpassen und dem Gegner Honig ums Maul schmieren, aber wenn wir endlich so weit sind, dann stellen wir sie alle an die Wand. (…) Grube ausheben, alle rein und Löschkalk oben rauf“ Holger Arppe

„Das große Problem ist, dass man Hitler als das absolut Böse darstellt.“ Björn Höcke

Ich könnte hier weiter machen, möchte aber noch auf einen Punkt kommen. Immer habe ich großen Respekt davor gehabt, dass ihr in unserem doch eher konservativen ländlichen Raum offen mit eurer Homosexualität umgegangen seid, euch nie versteckt habt.

Also warum, frage ich mich (und da bin ich nicht allein), bereitet ihr gerade einem Herrn Brandner so eine Bühne? Der Mann hat im Bundestag einen Antrag auf Abschaffung der gleichgeschlechtlichen Ehe eingebracht!

Was bleibt zu sagen? Ich erinnere mich gern an Besuche bei euch im Haus. Ich war ja schon dort, als noch Horst seine Mutter leckere „Ragout-fengchen“ servierte. Wir haben schöne Familienfeste in stilvollem Ambiente gefeiert. Das Essen war immer lecker, ihr wart gut drauf und meistens echte Frohnaturen. Das fühlt sich heute an, wie Geschichten aus einer fernen Vergangenheit erzählen, ist aber noch nicht so lange her.

Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir uns in diesem Land wieder friedlich vereint zusammenfinden und dass es egal ist, welche Weltanschauung, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung einer hat. Das ist für mich normal.

Euer Mitbürger
Frank Fulge