Stille Orte mit lauter Vergangenheit – Theaterprojekt der Wigbertschule auf Point Alpha

Gastbeitrag von Tim Keller
(Point Alpha Stiftung)

Es ist ruhig geworden an der innerdeutschen Grenze. Die Zäune, die einst die DDR von der Bundesrepublik trennten, sind verschwunden.

Wer heute am Grünen Band entlangwandert, trifft auf überwucherte Kolonnenwege, vereinzelt auf einen Turm, einen Bunker oder einen sich schwach abzeichnenden Kfz-Sperrgraben.

Die Landschaft wirkt friedlich – und doch trägt sie die Spuren einer schmerzhaften Vergangenheit. Die Teilung hat Narben hinterlassen: sichtbar in Resten der Grenzanlagen, unsichtbar in der Erinnerung der Menschen.

Zu diesen Narben gehören auch die sogenannten geschleiften Höfe – Gebäude im Sperrgebiet der DDR, die abgerissen und deren Bewohner zwangsumgesiedelt oder zur Flucht getrieben wurden. Kaum etwas erinnert heute an diese Orte.

Vom Fischerhof, einst in direkt am Point Alpha gelegen, sind nicht einmal mehr Fundamente erhalten. Und doch ist da eine Geschichte, die erzählt werden will; nur: wie gibt man einem verschwundenen Ort seine Stimme zurück?

Verschwundenen Orten eine Stimme geben

Dieser Frage haben sich die Schülerinnen und Schüler der Wigbertschule Hünfeld gestellt – gemeinsam mit dem Landestheater Eisenach und den Point Alpha Mitarbeiterinnen Aline Gros und Daniela Theurer.

Die Grundlage des Theaterprojekts bildete das Buch „Zur eigenen Sicherheit?“ von Wolfgang Christmann und Bruno Leister, das die Geschichte der geschleiften Höfe im Geisaer Amt dokumentiert. Die Point Alpha Stiftung fungiert als Herausgeberin der überarbeiteten Neuauflage.

Der Aufführungsort war so ungewöhnlich wie passend: die ehemalige Fahrzeughalle im US Camp Point Alpha, einst Beobachtungsstützpunkt der US-Armee am Eisernen Vorhang.

Im Zentrum der Halle eine große Leinwand, das Publikum sitzt dicht davor. Die Bühne ist geteilt – links und rechts der Leinwand, wie einst auch Deutschland geteilt war.

Stimmen aus der Vergangenheit

In der Halle wird es still und auf der großen Leinwand erscheint ein Bild des Fischerhofs. Dann beginnt der Ort selbst zu erzählen – durch die Stimmen der Schüler.

„Er“ berichtet vom Schicksal seiner Bewohner, der Familie Bednarek, die 1952 bei Nacht und Nebel fliehen musste. Danach melden sich weitere Orte zu Wort: die Buchenmühle, die Ziegelei Wenigentaft – Namen, die ein Raunen im Publikum auslösen, alte Erinnerungen kommen zurück.

Schließt man die Augen, werden die Orte lebendig. Am Fischerhof ruft die Mutter ihre Kinder vom Spielen zum Essen; in der Dampfziegelei Wenigentaft stampfen und zischen die Maschinen, bis sie dann plötzlich verstummen.

Dabei stehen die Schüler hinter der Leinwand und erzeugen allein durch ihre Stimmen ein beeindruckendes akustisches Panorama. Sie verleihen den Orten Menschlichkeit und lassen die Gäste das Leben der Bewohner in ihrer einstigen Heimat spüren.

Diese Verletzlichkeit und Emotionalität steht oft im Widerspruch zu den bürokratischen Quellenzitaten, die die Jugendlichen aus der Buchvorlage vortragen.

Auch die Grenze selbst wird auf der Bühne sichtbar: Bierbänke werden zu Stacheldrahtzäunen, die sich bedrohlich auftürmen.

Eine Schülerin steigt auf eine Leiter, blickt wehmütig in Richtung Osten – zur anderen Bühnenseite, wo vom Schicksal des Hofes in Langwinden berichtet wird. Reduktion wird hier zur Stärke: Wenige Mittel genügen, um Geschichte greifbar zu machen.

Gegen das Vergessen

Niemand wünscht sich den Schrecken der Grenze zurück. Doch mit der Zeit verblassen auch die Erinnerungen – und aus der einst grauen Realität wird in der Rückschau mitunter eine allzu bunte.

Orte wie Point Alpha wirken dem entgegen: Zäune, Ausstellungen, Zeitzeugen halten die Geschichte lebendig. Auch das Theaterprojekt leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Es verleiht verschwundenen Orten eine Stimme, macht das Unsichtbare sichtbar und widersetzt sich dem Vergessen.

Am Ende steht das Publikum – und applaudiert minutenlang. Die Schüler der Wigbertschule haben gezeigt, dass selbst ein schweres Thema mit Tiefe, Würde und künstlerischer Kraft auf die Bühne gebracht werden kann.

Stiftungsmitarbeiterin Aline Gros bedankt sich stellvertretend bei den beiden Autoren Wolfgang Christmann und Bruno Leister für ihr Buch, das zur Grundlage wurde, und für ihren Dialog mit der jungen Generation.

Im Anschluss signieren die Autoren ihre Bücher und kommen mit den Besucherinnen und Besuchern ins Gespräch – über Geschichte, Erinnerung und Verantwortung.