Gastbeitrag von Wolfgang Weber
Unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen reichen sich Konrad Adenauer und Nikolai Bulganin die Hand. Die Aufnahme diplomatischer Beziehung ist vereinbart.
Im Gegenzug werden die restlichen rund 10.000 deutschen Kriegsgefangenen aus dem Gulag freigelassen. Diese Konferenz vor 70 Jahren in Moskau zwischen Deutschland und der Sowjetunion gilt als legendär.
Auf Einladung der Point Alpha Stiftung nahm Holger Löttel das Publikum im Haus auf der Grenze mit auf eine informative und kurzweilige Zeitreise zu den Schauplätzen.
Inmitten des Kalten Krieges kam es vom 9. bis 13. September zum ersten direkten Kontakt zwischen beiden Ländern. Bis dahin gab es tiefe Risse im Verhältnis: ihre Frontstellung im Ost-West-Konflikt, das Problem der deutschen Teilung und die unbewältigte Gewaltgeschichte des Zweiten Weltkriegs. Die Ausgangslage und Interessen waren diametral.
Holger Löttel ist Leiter der Abteilung Edition und Wissenschaft der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Bad Honnef-Rhöndorf. Er gewährt auf Point Alpha einen spannenden Blick hinter die Kulissen, hat er doch die Protokolle dieser berühmten Konferenz in der Editionsreihe „Rhöndorfer Ausgabe“ publiziert und kennt alle Passagen aus dem Effeff.
Der Referent rekonstruierte eine viertägige Achterbahnfahrt von teils lautstarken und aggressiven Gesprächen am Verhandlungstisch bis zu Anekdoten vom Rahmenprogramm, das in betonter Herzlichkeit und exzessiver Gastfreundschaft verlief.
„Die Empfänge waren körperlich und mental anstrengend, es floss Wodka in Strömen. Die deutsche Delegation fühlte sich den kulturellen Gepflogenheiten verpflichtet und wollte sich zugleich Respekt verschaffen“, merkte Löttel an.
Mit einem kräftigem Schluck Olivenöl habe man versucht, im Vorfeld der Bankette die Wirkung des Alkohols abzumildern. Selbst bei einem dreistündigen Frühstück sei nach guter Landessitte ordentlich gebechert worden.
Adenauer sei standfest geblieben, wurde leicht schwankend in sein Domizil geführt und mit Tee für die nächste Arbeitssitzung aufgepäppelt.
Die Verhandlungen sind zäh und stocken immer wieder. Die Wortführer der Sowjetregierung sind Ministerpräsident Nikolai Bulganin, Parteichef Nikita Chruschtschow und Außenminister Wjatscheslaw Molotow.
Ihn gegenüber sitzen in Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU), Walter Hallstein, später erster EU-Präsident, Kurt-Georg Kiesinger, später Bundeskanzler, und Carlo Schmid (SPD). Am dritten Tag sieht es schon nach einem Scheitern aus.
Die Deutschen kommen auf die Idee, die Chartermaschinen über eine offene Telefonleitung zur vorzeitigen Abreise der 140-köpfigen Gruppe zu bestellen. Man weiß, dass der Geheimdienst mithört und erhofft sich dadurch ein Einlenken der Sowjets
Dieser Schachzug löst wohl den Knoten. Nach den dramatischen Konflikten, Konfrontation, Abrechnung, taktischen Finten, Druck, Sprachlosigkeit und Emotionen zu Beginn, war der letzte Tag von Aushandlungsstreitigkeiten mit Winkelzügen und Desinformation gekennzeichnet.
Am Ende stand allerdings eine Einigung, welche die elementaren Interessen beider Parteien wahrte. Schon als ihm eine alte Frau nach der Rückkehr in Köln vor laufenden Kameras die Hand küsste, wird deutlich, dass der Kanzler die Stimmung daheim wohl richtig eingeschätzt hatte, als er sich auf Bulganins Angebot einließ.
Die Rückkehr der Kriegsgefangenen und die von fast 20.000 Zivilinternierten löste eine Welle der Freude aus. Bereits am 7. Oktober erreichen die ersten 600 der „Zehntausend“ Kriegsgefangenen den Grenzbahnhof Herleshausen, um über das Lager Friedland zu ihren Angehörigen zu gelangen. Die Popularität des „Alten“ ist immens gestiegen.
Bei der dritten Bundestagswahl im September 1957, die Wahlbeteiligung beträgt 87,8 Prozent, erreichen die Christdemokraten mit 50,2 Prozent der Zweitstimmen die absolute Mehrheit.
Bis heute ist es das beste Wahlergebnis, das eine Partei in Deutschland bei einer Bundestagswahl je erzielte.
Dahinter tritt die ernüchternde Bilanz der Moskau-Reise mit Blick auf die deutsche Frage zurück. Wie in den folgenden Jahren deutlich werden sollte, hielt sich der deutschlandpolitische Flurschaden in Grenzen.
Eine internationale Aufwertung der DDR konnte vermieden werden, weil die Bundesregierung im Rahmen der Hallstein-Doktrin jedem Staat, der diplomatische Beziehungen mit der Ost-Berliner Regierung aufnahm, Sanktionen androhte.
Der Bonner Alleinvertretungsanspruch blieb im Kern unangetastet, verblasste aber im Laufe der Jahre zunehmend. Und mit dem Ausbruch der Berlin-Krise stießen diese konstruktiven Ansätze dann endgültig an ihre Grenzen.
Immerhin: Konrad Adenauer hatte wohl das erste Kapitel der bundesrepublikanischen Ostpolitik aufgeschlagen, und hierauf sollten seine Nachfolger später aufbauen.