Gastbeitrag von Wolfgang Weber
Es sind Flucht-Geschichten, die unter die Haut gehen. Es sind aber auch Geschichten, die dazu anregen, sich den menschlichen Schicksalen zuzuwenden, Brücken zu bauen und sich mit der aktuellen Migrationsproblematik auseinanderzusetzen.
Ahmad Bayan und Berthold Dücker berichteten jetzt in der Gedenkstätte Point Alpha unter der Überschrift „Flucht im Wandel der Zeit“ detailliert von ihren persönlichen Motivationen, Erlebnissen und Erfahrungen.
Eingeladen zu diesem Zeitzeugen-Dialog hatte das „Projekt Wohnzimmer“ vom Verein „Welcome In! Fulda“.
Das Phänomen „Flucht“ gab es seit Menschheitsgedenken, unter den unterschiedlichsten Ursachen und Bedingungen. Und doch gibt es erstaunliche Parallelen zwischen all diesen Fluchten und Vertreibungen, egal wo sich diese abspielen.
Berthold Dücker kann sich gut in diejenigen hineinversetzen, die vor dem russischen Bombenhagel aus der Ukraine fliehen oder sich auf der Suche nach Schutz über die Balkanroute schleppen.
1964 floh er nämlich als 16-Jähriger durch das Minenfeld der Innerdeutschen Grenze aus der DDR in die Bundesrepublik. Mit der Kneifzange knipste er zwischen Geismar und Setzelbach den „Eisernen Vorhang“ durch.
Sein Ziel: ein Leben in Freiheit, Frieden und Selbstbestimmung ohne die ständige Gängelung eines diktatorischen Unterdrückungsapparates.
„Menschen fliehen nicht aus Abenteuerlust oder Spaß, sondern vor Verfolgung, Gewalt und Perspektivlosigkeit, vor einem menschenunwürdigen Alltag, vor Hunger und Durst“, sagt der 74-Jährige aus Geisa.
Niemand nehme aus Abenteuerlust oder Spaß die gefährliche Reise im Schlauchboot übers Mittelmeer in Kauf, bei der jedes Jahr tausende Männer, Frauen und Kinder sterben.
Szenenwechsel: Rund 50 Jahre später sind es dieselben Motive, warum Ahmad Bayan alles zurücklässt, was ihm lieb ist. Er flieht vor dem Bürgerkrieg aus Syrien auf der Suche nach Sicherheit, Respekt und Menschenwürde, nach einer Zukunft.
Wie Dücker landet Bayan zuerst in einer Notunterkunft in Fulda und später im Aufnahmelager in Gießen. Heute studiert der 25-Jährige Sozialwissenschaften an der Hochschule Fulda, engagiert sich in der Initiative „Welcome In!“ und hält Vorträge in Schulen.
Sein Schlüssel zur schnellen Integration in sein neues Zuhause ist die Sprache. „Mir war es wichtig, sofort Deutsch zu lernen“, sagt Bayan, „um das Land, die Menschen und die Kultur zu verstehen, um Barrieren wegzuräumen.“
„Es sind damals wie heute vor allem junge Menschen, die ihr Leben für Freiheit und die Flucht vor Angst und Unterdrückung riskieren und dabei genau wissen, dass es der letzte Weg sein könnte“, meint Dücker, der 29 Jahre nach seiner Flucht als Chefredakteur der Südthüringer Zeitung in seine Heimat zurückkehrte und darüber hinaus die Gründung der Gedenkstätte Point Alpha maßgeblich initiierte.
„Es hat sich nichts verändert“, fügt er noch hinzu und bezieht diese Aussage nicht nur auf die Ursachen von Flucht, sondern auch auf die positiven wie negativen Reaktionen und Einstellungen, die die Geflüchteten bei ihrer Ankunft auf dem für sie unbekannten Terrain erwarten.
Zuwanderung ist ein „heißes Eisen“ in Europa, und aktuell bereitet den Kommunen in Deutschland die Unterbringung von Flüchtlingen enormes Kopfzerbrechen. Lösungen für die unzähligen Baustellen der Migrationsproblematik erscheinen in weiter Ferne.
Erzählungen, wie die von Bayan und Dücker, aber können wenigstens zur gegenseitigen Verständigung beitragen, Missverständnisse, Unsicherheiten und Ängste auf beiden Seiten abbauen sowie Verständnis und Empathie fördern.
Im Anschluss an den Zeitzeugen-Dialog hatten die Zuschauer viele Fragen, beispielsweise zu politischen Einschätzungen der Protagonisten, zu Hintergründen und Auswirkungen oder zur Sehnsucht nach Familie und Heimat.
Zu Beginn hatte Benedikt Stock, Geschäftsführender Vorstand der Point Alpha Stiftung, die Zeitzeugen und die Gäste begrüßt und sich beim Verein „Welcome In! Fulda“ für die Kooperation bedankt.