Gastbeitrag von Wolfgang Weber
Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurde ein Dominoeffekt ausgelöst, der die europäische Ordnung – manche sagen, gar die Weltordnung – nachhaltig verändern wird. Doch in welche Richtung werden die Steine kippen?
Auf die Suche nach einer Erklärung und den Hintergründen für Putins Krieg sowie möglichen Szenarien für die Zukunft begaben sich beim 12. Geisaer Schlossgespräch die Historikerinnen Gabriele Woidelko und Dr. Franziska Davies unter Moderation von F.A.Z.-Herausgeber Jürgen Kaube.
Unter der Überschrift „Die Ukraine und danach – zur Zukunft von Frieden und Verteidigung, Autarkie und Diktaturbewältigung in Europa“ hatten die Point Alpha Stiftung, die Landeszentrale für politische Bildung Thüringen (LZT) und die Hessische Landeszentrale für politische Bildung (HLZ) in den Gangolfisaal eingeladen.
Die drängendste Frage des Abends, wie und vor allem wann der Krieg in der Ukraine enden wird, konnten natürlich auch die Osteuropa-Expertinnen nicht beantworten.
Stattdessen analysierten sie die Situation anhand klarer Fakten, fundiertem Wissen und jahrelanger, persönlicher Erfahrung vor Ort.
Woidelko und Davies waren sich in ihrer Bewertung einig: Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren, denn was dort auf dem Spiel steht, geht uns alle an und ist ganz nah.
„Krieg ist ein Glücksspiel“, erklärt Davies, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrt. Jede befreite Stadt, jedes befreite Dorf sei ein Erfolg. Die westliche Staatengemeinschaft müsse die Ukraine so lange wie möglich unterstützen.
Ein Ziel sollte die Aufnahme in die NATO sein. Als Perspektive sieht Woidelko auch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Es seien Mechanismen dafür vorhanden, allerdings sei ein Beitritt in den nächsten zehn Jahren noch nicht absehbar.
Dafür seien auch Reformen in der Ukraine notwendig. „Aber die Ukraine ist ein zutiefst europäisches Land und war es immer“, betont die Leiterin für den Bereich Geschichte und Politik der Körber-Stiftung.
Beide Diskutantinnen kritisierten in diesem Zusammenhang die Empathielosigkeit und die Selbstbezogenheit in Teilen der deutschen Öffentlichkeit.
Vielleicht sei es ja eine Folge des Wohlstandes nicht zu begreifen, dass es um ein Leben in Freiheit gehe und die Folgen des Krieges für Deutschland entschieden geringer seien als für die Ukraine.
„Friedensverhandlungen kann es nur geben, wenn die Ukraine dazu bereit ist, und sie die Bedingungen vorgibt“, erklärt Gabriele Woidelko, die zudem eine juristische Auseinandersetzung und Aufarbeitung der russischen Kriegsverbrechen fordert.
„Wenn man sich einen Frieden in der Ukraine vorstellt, werden wir nicht herumkommen eine Art „Marshallplan“ zum Wideraufbau einzusetzen. Da werden gewaltige Kosten auf uns zukommen. Da ist der Doppel-Wumms ein Witz dagegen. Dafür braucht es einen Plan“, prognostizierte Jürgen Kaube.
Einen Plan, eine langfristige Strategie vermisst Franziska Davies auch bei der Bundesregierung. Vor allem verortet sie noch in der SPD einen „deutschen Russland-Komplex“.
Sie wünsche sich ein stärkeres Engagement von Europa, in dem die Führungsrolle Deutschlands nicht nur verbal zum Tragen komme.
Im Anschluss an die Gesprächsrunde gingen die Experten noch auf viele Fragen aus dem Publikum ein. So zum Beispiel wollte eine Zuschauerin wissen, wer nach Putin in Russland die Oberhand bekommen könnte?
„Ehrlich gesagt: ich weiß es nicht. Diktaturen sind wie eine Blackbox“, sagt Davies spontan. Es sei zu befürchten, dass „Putin die Opposition so geschwächt oder vertrieben hat, dass ein Neuanfang derzeit nicht zu erkennen ist.“
Zuvor hatten die Diskutantinnen und der Moderator die rund 120 Gäste mit auf eine Reise in die wechselvolle Vergangenheit ukrainischer Staatlichkeit genommen.
Der Aufstand der Kosaken 1648 gegen die polnische Adelsrepublik gilt als Stunde der ersten ukrainischen Nationalbewegung. „Der Kosakenmythos“, so Davies, „ist bis heute in der Ukraine lebendig.“
Kompakt und kompetent waren der weitere Überblick und die Aufklärung über das Wachsen der Ukraine bis in die Gegenwart, Leiden und Leben unter dem Joch des Habsburger- oder des Zarenimperiums, die wechselvolle Verknüpfung mit dem russischen und sowjetischen Reich sowie der Weg zur Demokratisierung inklusive der Orangenen Revolution und den Majdan-Protesten Anfang der 2000er bzw. 2010er Jahre.
Auch für das rücksichtslose Vorgehen von Putin finden sich Anhaltspunkte in der Historie. Seine Politik fuße auf der imperialistischen Ideologie, die dem Zarenreich entsprungen ist.
Bereits damals habe man per Dekret festgehalten, einen ukrainischen Staat, eine ukrainische Sprache gibt es nicht und beides darf es auch nicht geben. Diese historische Mission sei für Putin Auftrag.
„Point Alpha ist ein idealer Ort, der vielfältige Anknüpfungspunkte für das Thema bietet und der geradezu nach einer solchen Diskussion verlangt“, hatte der LZT-Leiter Franz-Josef Schlichtung zur Begrüßung festgestellt.
Der Überfall auf die Ukraine sei völkerrechtswidrig, trage einen genozidalen Charakter und richte sich auch gegen den Westen und die europäische Friedensordnung.
Europa sei in das Geschehen involviert, ob man wolle oder nicht. Es gebe in diesem Konflikt auch keine Neutralität, das wäre eine Art von unterlassener Hilfeleistung.
Dr. Alexander Jehn, Direktor der HLZ, betonte: „Es geht um uns, um Solidarität und wie wir unser Haus Europa sehen. Wir werden einen längeren Atem brauchen, aber es ist nicht nur über die Frage nachzudenken, ob es in unseren Wohnungen 18 oder 19 Grad warm ist. Denn, was heute die Ukraine ist, kann morgen Transnistrien oder das Baltikum sein.“