Die deutsche Russlandpolitik auf dem Prüfstand – Historiker wagt Bestandaufnahme

Gastbeitrag von Wolfgang Weber

Seit dem 24. Februar 2022 ist die deutsche Russlandpolitik in aller Munde. Illusionen, Naivität und schmutzige Deals - so der Vorwurf. Doch was wissen wir wirklich über die deutsche Ost- und Russlandpolitik der letzten 30 Jahre?

Mit dem „Sonderzug nach Moskau“ hat der Historiker Bastian Matteo Scianna im gut gefüllten Haus auf der Grenze von Point Alpha eine archivquellengestützte Bestandsaufnahme gewagt und sich auf die Spuren der deutschen Russlandpolitik seit dem Kalten Krieg begeben.

Dazu präsentierte der 37-Jährige auch Erkenntnisse aus seinem gleichnamigen Buch, das im Herbst im Handel erscheinen wird.

Russland und der Westen stecken in einer tiefen Krise. Was ist geschehen, wo ist man falsch abgebogen? Eine Einordnung und Analyse der Lage gab der wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam bei seinem hochaktuellen Vortrag.

Es sind die einfachen Bilder und Mythen, die in der öffentlichen Diskussion transportiert werden: die Männerfreundschaften zwischen Schröder und Putin, zwischen Kohl und Gorbatschow, die schweigsame Kanzlerin Merkel oder die deutsche Causa Nord-Stream II.

Mit Anekdoten und Zitaten illustrierte er die unterschiedlichen Ansätze der deutschen Regierungen im Umgang mit Russland, ordnet vermeintliche Fehler oder Fehleinschätzungen zu.

Aber so leicht ist das natürlich alles nicht. Im Gegenteil: Es ist komplex und kompliziert, versehen mit historischem Ballast und dadurch tieferliegenden Problemen.

Und natürlich wollten die Deutschen, dass sie in der Geschichte endlich einmal gemocht werden. Das nutze Putin vor dem Bundestag clever aus, zündete eine verbale Nebelkerze indem er mit wohlwollenden Worten in deutscher Sprache die deutsche Seele streichelte.

Nach der Auflösung der Sowjetunion Anfang der 90er hat es in Deutschland keinen Konsens über die Zielvorstellung einer stringenten Russlandpolitik gegeben - dies wird im Laufe des Scianna Vortrages auf Point Alpha deutlich.

Auch umgekehrt machte es die russische Politik den Europäern schwer, einen klaren Kurs einzuschlagen, da es kaum auszumachen war, was die Machthaber im Kreml wirklich wollten.

Und was fehle in der heutigen Diskussion, so Scianna, seien die Aspekte der kompletten Einbettung der deutschen Russlandpolitik in die Europäische Union und die Vereinten Nationen (UN) mit Rücksichtnahme auf den vielstimmigen Chor mit unterschiedlichsten Interessen der politischen Partner.

Von einem deutschen Sonderzug oder Sonderweg im Umgang mit Russland lasse sich demnach nur bedingt sprechen. In einer Rückblende erinnerte Scianna noch einmal an den Hitler-Stalin-Pakt, dessen Bruch und den Überfall auf Russland in 1941.

In Russland haben sich auch dadurch Ängste und Misstrauen gegenüber Deutschland festgesetzt. Ängste der anderen Art hätte es dann später bei den westlichen Partnern gegeben, die Sorgen hatten, dass Deutschland im Schatten von antiamerikanischer Friedenspolitik und Abrüstungsdemos im Rahmen der Ostpolitik unter Willy Brandt, Egon Bahr und Helmut Schmidt der Allianz von der Stange gehe.

Das Unvorstellbare schien dann 1989 möglich, als mit Michail Gorbatschow der Wind der Veränderung zu spüren war. Für die Wiedervereinigung und den Abzug der sowjetischen Soldaten versprach Helmut Kohl Konzessionen und wirtschaftliche Mittel.

„Stabilität, Stabilität und noch mal Stabilität“ war die Richtschnur des Regierungschefs, damit das riesige Reich auf die Beine kommt und nicht in einem blutigen Chaos auseinanderfällt. 60 Milliarden D-Mark wurden bis 1991 deshalb überwiesen und weitere 30 Milliarden in andere osteuropäische Länder.

Als „Scheckbuch-Diplomatie“ wurde das kritisiert, andere europäische Staaten hielten ihren Geldbeutel geschlossen.

„Nur bei uns ist es ein wichtiges Bild, dass wir dem gutmütigen und netten Gorbi zu Dank verpflichtet sind“, sagt der Referent, schränkt aber ein, „dass Gorbatschow keine Demokratie wollte, sondern nur Reformen und bei Protesten in seinen Satellitenstaaten ebenso das Militär brutal durchgreifen ließ.“

Es ist ein Auf und Ab in den Beziehungen zwischen Umarmungen und Sprachlosigkeit. Aber selbst in den größten Krisen – bei den Kriegen Russlands in Georgien, im Kaukasus, in Tschetschenien, Afghanistan, der Krim und zuletzt auch im ukrainischen Donbass – der Westen konnte nichts tun und es gab sogar immer wieder Situation in denen die Hilfe der Russen benötigt wurde.

Sei es bei Rohstoffen und deren Transport oder bei der Vermittlung bei den Atomgesprächen mit dem Iran.

Und es gab auch immer wieder eigene Krisen – beispielsweise 9/11, die Irak-Kriege, der islamistische Terror, die Finanzkrise, die Corona-Pandemie – die den Fokus von einer einheitlichen Linie gegenüber Russland ablenkten und Putins Befürchtungen vor den demokratischen Farbenrevolutionen vor der eigenen Haustür und den damit verbundenen Wünschen zu alter Stärke und zum alten Reich nicht erkennen ließen.

Über zwei Jahrzehnte hinweg weigerten sich daher auch die Regierungen unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder und Angela Merkel beharrlich, die machtpolitischen Praktiken und imperialen Ambitionen des russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Kenntnis zu nehmen und scheuten eine Konfrontation.

Der Referent attestiert Schröder eine „Kumpanei mit Russland für mehr Multipolarität und Beinfreiheit“ und die Ära Merkel fasst er mit „Führung ohne Abschreckung oder Eindämmung“ zusammen.

Zwar sei Merkel die Erste, die mit Putin Tacheles geredet und eine Abhängigkeit von Russland festgestellt habe. Aber ihr wurde schnell der Zahn gezogen vom eigenen russlandfreundlichen Koalitionspartner SPD und der überraschenden Reset-Politik von US-Präsident Obama, der sich anders als sein Amtsvorgänger George Bush jun. für einen Austausch und den Handel mit Moskau aussprach.

Nicht nur hier wird deutlich, dass Deutschland in seiner Russlandpolitik zunehmend in die Abstimmung mit seinen Partnern eingebettet war.

Schnell wird ausgeblendet, dass beispielsweise an der neuen Pipeline auch andere Länder wie Belgien oder die Niederlande beteiligt waren und auch die EU förderlich dahinterstand.

Zwar warnte Donald Trump vor diesem Projekt, hauptsächlich weil er mit allem Druck LNG-Terminals für amerikanisches Flüssiggas in Europa an den Mann bringen wollte.

Die Gemengelage innerhalb der transatlantischen Gruppe, die Interessen, Befindlichkeiten, Forderungen und Wünsche unter einen Hut zu bringen und dabei noch eine gemeinsame Formation gegenüber Russland zu bilden ist damals wie heute eine fehleranfällige Sisyphusarbeit.

Die Forschung zur Zeitgeschichte ist nach Meinung des Historikers Bastian Matteo Scianna aufgefordert, hierfür Einsichten herauszuarbeiten, um eine nüchterne Diskussion zu ermöglichen und sinnvolle Lösungsansätze zu finden.