Erotische Experimentierfreude – Buchlesung „Provinzlust“ auf Point Alpha

Gastbeitrag von Wolfgang Weber

Die Jahre nach dem Ende der DDR waren eine Zeit zwischen Wut und Wunder, enormen Hoffnungen und der großen wie kleinen Enttäuschungen, eine Zeit des Zusammen- und Aufbruchs. Die Geschichte der Erotikshops in Ostdeutschland ist ein Paradebeispiel für diese Veränderungen.

Bei seiner Lesung im Haus auf der Grenze hat der Historiker Dr. Jens Schöne den Wandel in den ländlichen Regionen aus ungewöhnlicher Perspektive ausführlich beschrieben.

Dem Publikum in der Gedenkstätte Point Alpha gab er dabei Einblicke in ein intimes Kapitel der Transformationszeit seit der Deutschen Einheit vor 35 Jahren.

Schöne erzählte auf Point Alpha von den Boomjahren für die Branche im Osten, als sich alles gut verkaufen ließ und auch auf dem Land nachgeholt wurde, was zu Honeckers Zeiten verboten war.

Sexshops gab es in der DDR nicht, erotische Wäsche und Sexspielzeug dürfte in der Konsumkultur auch eher Mangelware gewesen sein. Erst mit der Wende in Ostdeutschland kamen die Sexshops.

Die privaten Betreiber erprobten das Kleinunternehmertum und machten erste Erfahrungen mit westlichen Geschäftspraktiken und den Untiefen von Gewerbe- bis Umsatzsteuer.

Für die Neugründer ging es um die Lust an der Unternehmung und um die Unternehmung mit der Lust. „Aus dem Nichts und ohne Erfahrung wagten die Neubundesbürger den Sprung in den Kapitalismus bauten sich teils mitten im Nirgendwo eine neue Existenz auf“, hat der Auto für das Buch „Provinzlust“ auf seiner Interview-Tour herausgefunden.

Dabei hätten die Protagonisten unglaublichen Pioniergeist, Mut, Improvisationstalent aber auch eine Pfiffigkeit an den Tag gelegt, wenn zum Beispiel der Kaninchenstall zur Verkaufszeile umgestaltet wurde.

Die neuen Geschäfte avancierten rasch zum Zeichen der Transformation von Diktatur zu Demokratie, von Plan- zu Markwirtschaft. Dr. Jens Schöne skizzierte die Umbrüche, den Lebensalltag, die Probleme aber auch die Erfolge der neuen Selbständigen. Eine ungewöhnliche Perspektive auf eine besondere Zeit.

„Viele der Firmengründer waren gezwungen, sich neu orientieren, um zu Überleben. Die Branche spielte dabei keine Rolle. Andere ließen sich von der Goldgräberstimmung mitreißen“, rekapituliert Dr. Schöne in der Gedenkstätte Point Alpha.

In den Anfängen, so etwa bis Mitte der 1990er, konnte man richtig Geld verdienen, es gab einen gewaltigen Nachholbedarf an lustvollen Themen.

Da sei schon mal ein spezielles Magazin für 50 Mark oder eine Videokassette für 100 Mark über die Ladentheke gegangen. Von Politikern über Polizisten bis zu Arbeitsloser, alle Schichten und Altersklassen hätten neugierig in den Auslagen gestöbert.

Und, so schnell der Hype gekommen war, so schnell ging er auch vorbei. Mit Beate Uhse und Orion siedelten sich Ketten an. Nicht zuletzt hätten in den 2000ern die Versandhauskataloge und dann das Internet den kleinen Shops auf dem Lande das Genick gebrochen.

„Von geschätzten 1.500 haben bis heute nur etwa 20 überlebt“, hat Schöne herausgefunden. Da der Handel mit der Erotik nicht zum Leben ausreicht, hätten alle zumeist noch ein zweites Standbein – verkaufen gleich neben an zum Beispiel noch Fische und Zubehör fürs Aquarium, Büstenhalter, Feuerwerk, oder Versicherungen.

Zu Beginn hatte Johannes Schneider die Gäste im Forum der Gedenkstätte Point Alpha begrüßt. Im Rahmen einer kompakten Einführung ins Thema stellte der wissenschaftliche Mitarbeiter der Point Alpha Stiftung den Referenten vor und bedankte sich zudem beim Kooperationspartner der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung.

Die Geschichte der Umbrüche in Ostdeutschland um 1990 sei in den letzten Jahren stärker ins Blickfeld gerückt.

Die Kulturwissenschaftlerin Dr. Uta Bretschneider ist Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig und forscht wie auch Dr. Jens Schöne schon viele Jahre zu unterschiedlichen Themen im ländlichen Raum, wie zum Leben im Dorf in der DDR, zur Kollektivierung der Landwirtschaft oder ähnlichem.

Gemeinsam haben sie mit ihrem Buch „Provinzlust“ eine neue Facette der Aufarbeitung hinzugefügt. Am 21. August wird der Historiker mit einem Vortrag zum 80. Jahrestag der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone erneut Gast in der Gedenkstätte Point Alpha sein.