Gastbeitrag von Siegfried Hartmann („Itzi“)
Um das Jahr 1550, nur ein Jahr nach der Geburt des Rhöhorwels, ereignete sich tief im Herzen der Rhön eine andere, dunklere Geburt. Mitten im dichten Wald des Zigeunerstocks kam der Urheuwel zur Welt.
In jener stürmischen Nacht zerriss ein Blitz die Nacht und schlug unweit des Neugeborenen ein – ein unheilvolles Zeichen, so sagten die Alten. Während der Rhöhorwel zum Beschützer der Rhön wurde, schlug der Urheuwel den Pfad des Taugenichts ein.
Schon früh zog er mit seinem Kumpan Drehmel durchs Land. Die beiden waren gefürchtet, denn kein Bauernhof war vor ihnen sicher: Ziegen, Schafe und sogar eine Kuh fielen ihren nächtlichen Beutezügen zum Opfer.
Doch der Urheuwel war nicht nur stark, sondern auch gewitzt. Sein handwerkliches Geschick nutzte er, um Schlitten zu bauen – vordergründig für die Holzarbeit, doch in Wahrheit dienten sie dem Holzklau in den dunklen Wäldern der Rhön. So entkam er selbst im tiefsten Schnee den wütenden Bauern.
Doch trotz seiner Schandtaten suchte der Urheuwel auch den Ruhm. Ende des 16. Jahrhunderts kam es zum legendären Wettkampf, der bis heute in der Rhön erzählt wird: Ein Tauchwettstreit zwischen ihm und seinem Widersacher, dem Rhöhorwel.
Die Frankenheimer Teiche, damals noch ohne den Mitteldamm, waren die Bühne dieses Spektakels. Die gesamte Rhön war versammelt, als der Bürgermeister von Frankenheim das Startzeichen gab.
Mit Lungenflügeln so groß wie Scheunentore durchpflügten die beiden das Wasser wie Wale, sodass die Teiche bebten. Meter um Meter lieferten sie sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Am Ende siegte der Rhöhorwel – doch nur um Haaresbreite. Der Urheuwel verschwand kurz darauf aus dem Blickfeld der Menschen.
Seit jener Zeit wurde er nie wieder gesehen. Die Alten munkeln, er habe sich ins Gänswässerche zurückgezogen – eine versteckte, sumpfige Gegend tief im Rhönwald, in der Nebel und Schatten regieren.
Doch seine Geschichte endet nicht hier: Immer wieder berichten Wanderer von flüchtigen Gestalten im Nebel und dem Knacken von Ästen, als ob jemand heimlich Holz davonträgt.
Es heißt, dass die Nachkommen des Urheuwels noch immer in der Rhön leben – verborgen, aber stets bereit, die alten Gaunereien ihres Vorfahren weiterzuführen.