Es klingt ein bisschen wie ein spannender Krimi: Am Anfang steht etwas Rätselhaftes, am Ende ein Ergebnis und dazwischen ganz viel Sisyphos-Arbeit. Man weiß nicht, wo und wie man eigentlich anfangen soll. Scheinbare Nebensächlichkeiten werden zu entscheidenden Hinweisen.
Und hinter fast jedem neuen Hinweis verstecken sich auch neue Fragen. Mit einer guten Kombinationsgabe, dem entsprechenden Quäntchen Glück und den richtigen Beziehungen aber konnte der Fall gelöst werden. Ein musikalischer Fall.
Vor geraumer bekam Antje Dänner, eine Sängerin im Kirchenchor Tann und Mitglied im Vorstand des Kultur- und Geschichtsvereins Tann, einige Kopien handgeschriebener Noten in Hand – mit dem Hinweis, dass diese von Manfred Rabenstein stammten.
Dieser wurde 1911 in Tann geboren, studierte am „Seminar für jüdische Kantoren und Lehrer in Köln“ und war ab 1932 als Lehrer und Rabbi in Darmstadt tätig.
Aufgrund der Judenverfolgung im Nazi-Deutschland wanderte die Familie 1938 nach Amerika aus, wo es ihm als Mitglied verschiedener jüdischer Organisatoren ein besonderes Anliegen war, die jüdischen Traditionen zu bewahren, wie er sie in Deutschland kennengelernt hatte.
So schrieb er in mehreren Bänden „Kantorale Gesänge“ auf, wie sie ihm seit Kindestagen auch aus der Tanner Synagoge vertraut waren. Rabenstein starb 2001 in Baltimore.
Die Kopien Rabensteins übergab Antje Dänner wiederum dem Leiter des Tanner Kirchenchores, Thomas Nüdling. Er stand besonders vor der Herausforderung des hebräischen Textes bzw. seiner Lautschrift: Entscheidende Hinweise gaben ihm Prof. Dr. Christoph Gregor Müller und Dr. Matthias Helmer von der Theologischen Fakultät Fulda sowie Prof. Dr. Sarah Ross vom „Europäischen Zentrum für Jüdische Musik“ in Hannover.
Sie konnten organisatorische, kulturelle, sprachliche und musikalische Hürden erfolgreich überwinden helfen: Es handelte sich um eine Melodie zum Pijjut „Lecha Dodi“, das am Freitagabend in der Synagoge zur Begrüßung des Sabbats gesungen wird. Namen und Nummern an den Seitenrändern der Handschriften verwiesen auf Gesangbücher, die seinerzeit in den jüdischen Gemeinden der Region ihren Einsatz fanden:
Abraham Baers „Baal T'filla“ („Der practische Vorbeter“) von 1871 und Israel Meyer Japhets „Schire Jeschurun“ („Gottesdienstliche Gesänge“) von 1856 und 1864.
Manfred Rabenstein hat in seiner Handschrift also verschiedene Melodien aus mehreren Gesangbüchern zu einem „Tanner Lecho Dodi“ kombiniert. Und genau so wurde von der jüdischen Gemeinde in der Rhönstadt jahrzehntelang der Sabbat mit einem großen Gotteslob begrüßt.
Dr. Michael Imhof gab am Sonntag einen kleinen Abriss der damaligen Geschehnisse, Schülerinnen und Schüler der Ulstertalschule Hilders lasen die Namen der ermordeten jüdischen Mitbürger und der Kirchenchor Tann unter der Leitung von Kantor Thomas Nüdling gestaltet die Feier unter anderem mit dem „Tanner Lecho Dodi“.
In Erinnerung an die von 1941 bis 1944 in Vernichtungslagern ermordeten 54 jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen hat der Kultur- und Geschichtsverein Tann eine Gedenktafel gestaltet, die im Anschluss auf dem Platz der ehemaligen Synagoge enthüllt wurde.
Der Kultur- und Geschichtsverein erfüllt damit ein Versprechen, das dem letzten Rabbiner von Tann, Henry Okolica, bei einem Besuch gegeben wurde.
Quelle: Thomas Nüdling
Fotos: Gerhard Gilbert