Wirtschaftliche & Emotionale Katastrophe – Kein Heiratsmarkt in Kaltennordheim

Gastbeitrag von Katja Schramm

Pfingsten ohne Heiratsmarkt? Nicht vorstellbar. Hat es so etwas in 458 Jahren schon einmal gegeben? Zumindest erinnert sich niemand daran.

Selbst während des zweiten Weltkrieges standen Riesenrad, Karussell, Schießbude und ein paar Verkaufsstände auf dem Neumarkt, das weiß der 85-jährige Edgar Eckold noch ganz genau. Aber ein Ausfall? Vielleicht in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges oder der großen Stadtbrände. Vielleicht!

Belege dafür gibt es jedenfalls nicht, sagt Claudia Greifzu, die sich intensiv mit der Geschichte Kaltennordheims beschäftigt und diese Frage in der jetzigen Zeit häufiger gestellt bekommt.

In einer Zeit, die mit ungewohnten Herausforderungen und mit Verzicht verbunden ist. Da ist es eben nicht so leicht, sich gedanklich auch von bedeutsamen Ritualen und Traditionen zu verabschieden, die unverzichtbar geworden sind.

Dass nun auch der Heiratsmarkt wegen Corona weichen muss, ausgerechnet im Jubiläumsjahr, in dem die Stadt ihren 1225.Geburtstag feiert, tut weh

„Das ist ein Kulturschock für die Rhön“, meinen Sibylle und Günter Tanz, die als langjährige Geschäftsführer von „Büchner Moden“ das Marktgeschehen als Anwohner und als Einzelhändler mitten in der Stadt erleben, die „gerne die Einschränkungen vor der eigenen Haustür hinnehmen, weil der Heiratsmarkt im Vergleich dazu sehr viel Gutes mit sich bringt“.

Ein Heiratsmarkt, der über Jahrhunderte hinweg „so viele Facetten erlebt hat als reiner Bauern- und Handwerkermarkt, Viehmarkt bis hin zum Volksfest mit Markttreiben, Fahrgeschäften, Musik und Sport wie wir es heute feiern“.

Ein Markt, dessen Tradition im Stadtgeschehen fest verankert ist, auf dem sich Menschen kennengelernt, verliebt und geheiratet und somit dem Markt seinen Namen gegeben haben. Der Heiratsmarkt in Kaltennordheim ist ein Treffpunkt, der Verbindungen über Generationen hinweg schafft und Kindheitserinnerungen weckt, die prägend sind.

So bleiben die Schiffsschaukel und das historische Kinderkarussell von Kurt Münch unvergessen, genauso wie die „Fahrt ins Blaue“, die Berg- und Talbahn von Hans Gärtner, dem Großvater von Matthias Schard.

Der 48-Jährige ist seit einigen Jahren für die Auswahl der Schausteller auf dem Heiratsmarkt zuständig und führt den Familienbetrieb in der dritten Generation weiter.

Über 70 Jahre kommt seine Familie nach Kaltennordheim, seit mehr als 40 Jahren mit dem „Auto-Scooter“. Deshalb ist die Absage des diesjährigen Heiratsmarktes auch für Matthias Schard eine „wirtschaftliche und emotionale Katastrophe“.

Der Schausteller sieht sich noch heute an der Seite seines Großvaters in die Stadt hineinfahren.

Damals als Kind, ging er in den Tagen des Auf- und Abbaus in Kaltennordheim zur Schule, lernte die Menschen vor Ort kennen und schätzen und knüpfte Kontakte, die bis heute in freundschaftlicher Weise bestehen.

„Nun ist es so als würde mir ein Stück Heimat genommen“, sagt Matthias Schard, für den es nach wie vor „unvorstellbar“ ist, dass es dieses Jahr keinen Heiratsmarkt geben wird.

An diesen Gedanken muss sich auch Stephan Heym erst noch gewöhnen. Der Kaltennordheimer gehört zu den freundschaftlichen Kontakten von Matthias Schard und dem „Auto-Scooter“ direkt vor der Haustür.

„Mein ganzes Leben kenne ich das nicht anders“, sagt Stephan Heym, der auch als Erwachsener noch das Kribbeln im Bauch verspürt, wenn die ersten „Pfingstwagen“ in den Ort rollen. „In diesem Jahr wird mir das Herz bluten“, sagt der Ortsteilbürgermeister, der die jetzige Situation als „sehr, sehr gewöhnungsbedürftig“ beschreibt.

Der Verlust des Heiratsmarktes „wird zudem ein riesiges Loch in viele Haushaltskassen reißen“.

Auch als Vorsitzender des Kaltennordheimer Sportvereins sieht Stephan Heym die Entwicklung mit großer Sorge, da dem Verein die Einnahmen der Abendveranstaltungen im Festzelt und zu den Fußball-Veranstaltungen auf dem Sportplatz fehlen werden.

An die finanziellen Schäden der Gastronomen, Einzelhändler, Vereine und Schausteller denkt auch Ulrich Schramm „mit Bauchschmerzen“, und an die „gähnende Leere“ am Pfingstwochenende.

„Das wird eine schmerzliche Erfahrung, die wir alle machen müssen“, sagt der ehemalige langjährige Bürgermeister, der fast 30 Jahre als Mitorganisator und Moderator der Eröffnungsveranstaltung eng mit dem Heiratsmarkt verbunden ist.

Nun wird weitestgehend alles verschoben, das geplante Programm genauso wie die Vorfreude auf das nächste Jahr. So erhofft es Kaltennordheims Bürgermeister Erik Thürmer genauso, der sich die Entscheidung auch nicht leicht gemacht hat. Doch es gab keine Wahl

Das war auch Hardy Walch klar. Besser bekannt als „Locke“, dem Wirt von „Mister Lockes Pub“ im Schloss, wo er seit 30 Jahren zu finden ist. Und, auf dem Heiratsmarkt im Ausschankwagen in der Feldabahnstraße. Eine Adresse, die sehr vielen Menschen bekannt ist, vor allem den Fans von „Little Wing“.

Die Musiker treten auf Einladung von Hardy Walch in dieser Formation nur noch einmal im Jahr auf – Pfingstmontag auf dem Heiratsmarkt und locken damit rund 400 Leute aus der weiten Region an. Diesmal nicht.

Wie jeder andere Gastronom hofft auch Hardy Walch, „dass es schnell weitergeht“ und er wenigstens seinen Pub wieder öffnen kann.

So sieht es auch Michael Biehl, der als Gastwirt vom „Schlosscafè“ mit seiner Ehefrau und dem Mitarbeiterteam seit Jahrzehnten für das leibliche Wohl zum Heiratsmarkt im Festzelt auf dem Schlosshof sorgt. Sie rechnen mit „herben Einnahmeverlusten“, wissen aber auch: „Gesundheit geht vor“.

So steht den Kaltennordheimern ein menschenleeres Pfingstwochenende bevor, ohne Volksfeststimmung auf den Straßen der Innenstadt bei Spiel, Spaß, traditioneller, musikalischer und sportlicher Unterhaltung, Markttreiben und Feuerwerk.

Statt dem ersehnten Kribbeln im Bauch macht sich schon jetzt Wehmut breit. Bleibt der Blick ins nächste Jahr und der sehnliche Wunsch vom Riesenrad aus wieder in eine stimmungsvolle und zuversichtliche Zukunft blicken zu können.