Gastbeitrag von Wolfgang Weber
Aufarbeiter und Erinnerer, Zuhörer und Lernender, Provokateur und Mahner, Seelsorger und Psychologe, Prediger und Lehrer: Für sein politisches, gesellschaftliches und menschliches Wirken erhielt der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck am Donnerstagnachmittag den Point-Alpha-Preis 2022 für besondere Verdienste um die Einheit Deutschlands und Europas in Frieden und Freiheit.
Das Kuratorium Deutsche Einheit e.V. zeichnete in Zusammenarbeit mit der Point Alpha Stiftung einen der beliebtesten Politiker für seine vielfältigen Verdienste und die Lebensleistung aus.
„So schön dieser Tag ist, so steht die Preisverleihung doch im Schatten des russischen Überfalls auf die Ukraine. Wir befinden uns mitten in der europäischen Katastrophe. Das zeigt, dass die Einheit und Freiheit Europas keine Selbstverständlichkeiten sind“, sagte Christian Hirte MdB, Präsident des Kuratoriums Deutsche Einheit zur Begrüßung.
„Mit Joachim Gauck wird eine Persönlichkeit ausgezeichnet, die gezeigt hat, was es heißt, für die Erlangung von Freiheit zu kämpfen. Die Idee einer freiheitlichen Gesellschaft ist ihm zeitlebens und unter allen Umständen ein zentrales Anliegen.“
Als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen habe er das Amt mit solcher Überzeugung und Überzeugungskraft geführt, dass die Behörde schließlich mit seinem Namen identifiziert wurde.
Nach seiner Wahl zum ersten Bundespräsidenten aus dem Osten der Bundesrepublik im Jahre 2012 habe er es überzeugend verstanden, ein überparteilicher Bundespräsident aller Deutschen zu sein.
„Sein Engagement für Europa beeindruckt. Gauck hat sein kritisches Denken und das unbequeme Wort nie aufgegeben“, betonte Hirte.
„Als eine der großen Persönlichkeiten unserer Zeit“ beschrieb der Stiftungsratsvorsitzende der Point Alpha Stiftung, Dr. Stefan Heck (MdB), den Preisträger. Seine Biografie spiegele in eindrucksvoller Weise die jüngere deutsche und deutsch-deutsche Geschichte wider.
Mit Blick auf die Gedenkstätte Point Alpha betonte Heck: „Freiheit, Frieden und territoriale Integrität unseres Vaterlandes konnten über viele Jahrzehnte nur gesichert werden durch militärische Stärke und ja auch durch glaubwürdige Abschreckung.“
Joachim Gauck habe dieses nur scheinbare Paradox von Friedenssicherung und notwendiger, militärischer Abwehrbereitschaft kürzlich prägnant auf den Punkt gebracht.
Er zitierte den Bundespräsidenten a.D. mit den Worten: „Es ist ein Mangel an Realitätssinn, wenn man glaubt, dass fundamentaler Pazifismus Frieden herbeiführen könnte“. „Auch dies lehre uns dieser besondere Ort Point Alpha in besonderen Zeiten“, konstatierte Dr. Heck.
Zahlreiche Ehrengäste und Bürger aus der Region verfolgten den Festakt im US Camp der Gedenkstätte Point Alpha. Die Laudatio hielt Prof. Dr. Andreas Voßkuhle als Vorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“.
Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts fällte ein eindeutiges Urteil: „Joachim Gauck war immer mehr als nur der eine!“. In seiner Ansprache spürte Voßkuhle den unterschiedlichen Facetten der Persönlichkeit des 82-jährigen Preisträgers nach, der „in ganz wunderbarer Weise dem Politischen ein menschliches Antlitz verliehen hat und die seine großen Verdienste für unser Land begründen“.
Kapitänssohn, Jugendpfarrer, Bürgerrechtler, Stasi-Aufklärer, Bundespräsident und nun Point-Alpha-Preisträger: Die Biografie von Joachim Gauck spiegelt die deutsch-deutsche Geschichte hervorragend wider.
Anhand vieler Szenen, Situationen und an Beispielen belegte Voßkuhle eindrucksvoll die Fähigkeiten Gaucks, zuzuhören, zu trösten, zu mahnen, zu erinnern oder zu lehren.
„Die Friedliche Revolution bleibe ein zentraler Moment, der sein Leben überstrahlt, sein schönster Satz ist „Wir sind das Volk“, sagte Voßkuhle. Gauck sei vor allem untrennbar mit der DDR-Aufarbeitung verbunden, er setze sich besonders für die Opfer des Unrechtstaates ein.
Ein Ende der Beschäftigung mit der Vergangenheit würde für Gauck auf eine „Verabredung des allgemeinen Vergessens“ hinauslaufen.
Um im neuen geeinten Deutschland trotz Verletzungen und Enttäuschungen gut zu leben, sei es laut Voßkuhle für den Point-Alpha-Preisträger unabdingbar, Angst zu überwinden, Mut zu zeigen, tätig zu werden, Verantwortung zu übernehmen und für Freiheit einzustehen und schließlich die Demokratie und den Rechtsstaat entschlossen zu verteidigen.
Joachim Gauck bedankte sich sichtlich berührt für die Auszeichnung und die ehrenden Worte. „Es freut mich, wenn hinter Themen und Sätzen die Idee und hinter Haltungen und Gesten das Herz erkannt wird.“
Schnell kam Gauck aber zur Sache und wurde ernst: „Es ist kein Zufall, dass man hier in der Gedenkstätte Point Alpha stehe, sondern das eine Ursache gab, dass Menschen, die sich an Angst und Anpassung gewöhnt hatten, Abschied von der Angst genommen und sich auf den Weg zur Freiheit gemacht haben.“
Die Überwindung von Angst stand auch im Mittelpunkt zu seiner Bewertung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Er plädierte dafür, die lähmende Angst in Mut, Kraft und Energie umzuwandeln, um den Aggressor, der Europa die Feindschaft aufzwinge, mit allen Mitteln entgegenzutreten. Die Ukraine müsse den Krieg gewinnen, was gewinnen auch immer bedeute.
Gauck forderte die Deutschen auf, alles bis zur Grenze des ihnen Möglichen zu unternehmen, um Putins mörderisches Treiben und seinen imperialistischen Wahn ein Ende zu setzen.
„Die Grenze ist noch nicht erreicht. Wir können noch mehr tun.“ Er verstehe zwar die Tragweite des moralischen und geopolitischen Dilemmas vor dem man stehe. Schuldig könne aber auch der werden, der nicht handele.
Demokratie müsse wehrhaft sein, fuhr Gauck fort, die Ängstlichkeit in unserem Land müsse nicht dominieren. „Ich mag es nicht, wenn Menschen einfach nur zuschauen, sondern sagen: Wir sind die Bürger. Das ist unsere Freiheit und unsere liberale Demokratie und wir werden sie schützen“.
Schon 2009 war Joachim Gauck am authentischen Geschichtsort im Rahmen der Point-Alpha-Preisvergabe aufgetreten, damals allerdings in der Rolle des Laudators für die DDR-Bürgerrechtsbewegung, die als Symbol der Aufbruchstimmung und des gewaltfreien Wandels ausgezeichnet worden war.
„Keiner wird auf der Couch richtig glücklich“, warnte Gauck schon damals vor politischer Passivität in der Demokratie. Und was er von anderen fordert, lebt er noch heute vor.
Denn es ist nicht ruhiger geworden um ihn, er ist nicht ruhig geworden, wie die rund 450 Besucher im US Camp in Gaucks energischer Erwiderung auf die Laudatio erlebten.
Er beteiligt sich weiterhin bei aktuellen Debatten und tritt für das ein, was sich wie ein roter Faden durch sein Leben zieht: Freiheit, Demokratie, Verständigung, Gerechtigkeit und Toleranz. Für seine Rede und die Auszeichnung erhielt Gauck vom Publikum stehende Ovationen.
Hessens neuer Ministerpräsident Boris Rhein würdigte den diesjährigen Preisträger des Point-Alpha-Preises mit den Worten:
„Es gibt wenige, die sich so stark der Freiheit verschrieben haben wie Joachim Gauck. Die Freiheit war ihm eine Herzensangelegenheit und Leitmotiv seines Wirkens. Joachim Gauck hat sich intensiv dafür eingesetzt, die Erinnerung an die Diktaturen des Kommunismus sowie des Nationalsozialismus wachzuhalten, um den Wert der Demokratie für die Gegenwart und die Zukunft zu stärken und gegen politischen Extremismus zu verteidigen. Er ist ein würdiger Träger des Point-Alpha-Preises.“
„Am Vorabend des 17. Juni an diesem Ort Point Alpha zu sein, ist etwas ganz Besonderes“, sagte Bodo Ramelow, Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, und erinnerte an die Schicksale der Bürger, die bei den angeordneten Zwangsaussiedlungen des DDR-Regimes ihre Heimat verloren hatten.
Heute, 32 Jahre später, könne man stolz sein auf das in Deutschland Erreichte und auf Point Alpha sei der Wert der Freiheit besonders deutlich erfahrbar.
Allerdings stellte auch Ramelow fest, dass aktuell finstere Zeiten vorherrschten, und man größte Sorge haben müsse, dass Autokratien die Oberhand gewinnen würden, und dass Krieg zur Durchsetzung von Interessen zur Normalität werde.
Abschließend brachte der Thüringische Ministerpräsident seine Freude über die Freundschaft und die Verbindung von Hessen und Thüringen zum Ausdruck.
Der Point-Alpha-Preis wird seit 2005 für Verdienste um die Deutsche Einheit und die europäische Einigung in Frieden und Freiheit verliehen. Frühere Preisträger sind unter anderem Bernhard Vogel, Helmut Kohl und Michail Gorbatschow. Mit der Auszeichnung ist ein Preisgeld in Höhe von 25.000 Euro verbunden.
Für die musikalische Umrahmung der Veranstaltung sorgte das Posaunen-Quartett des Bundespolizeiorchester Hannover unter Leitung von Anton Wagner-Shibata. Die Musiker spielten die „Sonate“ von Daniel Speer, „Gospel Time“ von Jeffrey Agrell und einen Marsch aus der Oper „Tannhäuser“ von Richard Wagner.
Benedikt Stock, Geschäftsführender Vorstand der Point Alpha Stiftung, bedankte sich zudem für die freundliche Unterstützung bei den Mitgliedern der Freiwilligen Feierwehr aus Rasdorf unter Leitung von Maik Lewalter, der Freiwilligen Feierwehr von Geisa unter Leitung von Jens Quentmeier, dem Deutschen Roten Kreuz von der Ortsgruppe Rasdorf und der Polizeistation aus Hünfeld.